Manhattan unter Segeln von Petrina Engelke
„Kannst du das Boot mit mir nach Manhattan bringen?“
Wenn ich eins in New York gelernt habe, dann ist es, schnell zu entscheiden. Ich hätte nachdenken, abwägen, planen können, aber ich sagte: „Klar!“, als die neun Worte fielen: „Kannst du das Boot mit mir nach Manhattan bringen?“ Die Frage kam vom Besitzer eines zehn Meter langen Segelboots namens Sojourn, das gerade in einer Bucht weit draußen an der Grenze von Brooklyn und Queens lag.
Ich hatte ja keine Ahnung, dass diese Reise beinahe umgehend zu einem längeren Törn auf der Sojourn führen sollte und letztlich in das Dorf, in dem ich inzwischen wohne: nach Greenport. Mit dem Auto ist Greenport ungefähr zwei Stunden von NYC weg. Mit der Sojourn brauchen wir für die Strecke zwei oder drei Tage, je nach Wind, Wetter und Gemütslage.
Die Strecke ließe sich durchaus binnen gut 24 Stunden bewältigen – bei steifer Brise sportlich gesegelt, mit abwechselnden 4-Stunden-Schichten am Steuer, rund um die Uhr. Aber die Sojourn ist keine Rennyacht, sondern das, was die Segelgemeinde „Dickschiff“ nennt; eher stabil als schnittig, nicht schneller als ein Fahrrad und damit wie gemacht für meine Vorstellung dieser Reisen: Ich wollte kein Rennen gewinnen, sondern buchstäblich den Weg zum Ziel machen.
Hell Gate – Der Name ist Programm.
Eine der beiden möglichen Segelrouten von Brooklyn nach Greenport führt an Manhattan entlang den East River hoch. Von dort geht es dann in den Long Island Sound, das Stück Meer, das den Raum zwischen dem Festland (größtenteils Connecticut) und Long Island einnimmt. Um dorthin zu kommen, müssen alle Boote durch Hell Gate – der Name ist Programm.
Obwohl heute längst die gefährlichsten der Felsen weggesprengt sind, die für viele Unglücke gesorgt haben, ist Hell Gate voller Strudel. Manchmal sieht es aus, als würde das Wasser dort kochen. Das liegt auch daran, dass dort die Gezeiten aufeinandertreffen: von der Hafeneinfahrt den East River hoch oder vom Long Island Sound zum East River hin. Zweimal am Tag gibt es ein Zeitfenster, in dem wir dort gut durchkommen – und uns quasi von der Ebbe in den Long Island Sound ziehen lassen. „Go with the flow“ beim Wort genommen – dieses Reiseprinzip hat meine Wahrnehmung verändert.
Klar, ich hab reflexartig Fotos gemacht, als wir kurz hinter Hell Gate an dem Gefängnisschiff gegenüber von Rykers Island vorbeikamen, von dessen Existenz ich zuvor nicht einmal geahnt hatte. Glaubt einem ja sonst kein Mensch! Aber je weiter die Reise ging, je mehr Zeit verstrich, umso weniger hat mich beschäftigt, was hinterher toll zum Herzeigen ist. Was übrigens ein Nachteil ist, wenn man Jahre später einen Text wie diesen schreibt und dann bebildern will.
Viel Wind macht viel Arbeit.
Was sich nie geändert hat: Frühmorgens würde ich es lieber wie der Wind halten und noch schlafen. Aber wenn die Gezeiten, Strömungen, Streckenlänge oder Wetterlage es erfordern, stehe ich eben vor Sonnenaufgang am Steuer der Sojourn. Und wenn dann der Wind erwacht, der Motor endlich ausgeht und die Segel stehen, dann öffnet sich eine neue Welt, außen und innen.
Unzählige Wellenmuster in Varianten von blau, grün, grau und weiß. Das Gefühl an den Ohren, das mir verrät, woher der Wind weht. Ruhe ist nicht Stille, sondern gluckern, raunen, zischen. Bis so ein Zigarettenboot-Angeber mit Höllenlärm vorbeiprescht und Zen in Zorn verwandelt, kurzfristig jedenfalls.
Die Natur ist ja auch nicht ohne. Viel Wind macht viel Arbeit. Sturm macht Pläne zunichte. Und bei Flaute dehnen sich Zeit und Ort zum Nirgendwo, manchmal verschwindet dann sogar die Linie am Horizont. Als das Staunen über dieses scheinbare Nichts in Langeweile umschlägt, zieht es mich einmal auf die Leiter am Heck, und ich springe. Das Boot ist so langsam, dass ich schwimmend mithalten kann, mit Blick auf Unendlichkeit, unter mir 70 Fuß Wasser. Ein angeleintes Schwimmkissen platscht neben mich ins Wasser, für alle Fälle.
Beharrlich ruft sich die Zivilisation in Erinnerung.
Fischer holen Krabbenfallen ein, uniformiertes Personal schrubbt ankernde Millionenyachten, über den Funk knistert eine Suchmeldung der Küstenwache. Privatstrände liegen offen da, Villen lugen zwischen Bäumen hervor an der Goldküste von Long Island, wo „Der große Gatsby“ spielt. Manche Anwesen, die einmal irgendwelchen Vanderbilts oder Guggenheims gehörten, kann man besichtigen, aber nicht mit dem Boot. Klassisches Sightseeing ist ein Nachteil bei dieser Art zu reisen: Das erfordert fast immer ein Taxi und kann ganz schön ins Geld gehen.
Das scheint auch für längere Segeltörns ohne private Kontakte zu reiselustigen Bootsbesitzern zu gelten: Boots-Charter für den ganzen Tag oder gar für mehrere Tage mit Captain und Crew sind in New York City rar, und ich habe selten Angebote unter 1500 Dollar pro Tag gesehen. Es ist eben ein Saisongeschäft, und vielleicht fehlt auch die Nachfrage angesichts der Magnetkraft Manhattans.
Mir hat die Bitte, ein Boot nach Manhattan zu bringen, zudem einen Traum erfüllt: auf derselben Route ins Herz meiner Wahlheimat zu reisen wie andere Europäer*innen vor der Verbreitung von Flugreisen. Dieser erste Roadtrip auf dem Wasser sah aus, hätte ihn sich ein Set-Designer mit Hang zur Übertreibung ausgedacht: Nebelschwaden machten erst die Passage durch die Hafeneinfahrt unter der vier Kilometer langen Verrazzano Narrows Bridge hindurch zum Krimi, und später brannte die Sonne den Drama-Nebel genau so weg, dass die Wolkenkratzer allmählich aus einem diffusen Nichts auftauchten.
Um Manhattan wirklich zu sehen, muss man die Insel verlassen. Dafür braucht es nicht einmal die stundenlange Anreise von weither: Die Staten Island Ferry nimmt Tourist*innen kostenlos für eine einstündige Rundreise an Bord. Wer dasselbe unter Segeln erleben will, findet diverse Angebote für meist zweistündige Touren im New Yorker Hafen, besonders zum Sonnenuntergang und immer mit Blick auf die Freiheitsstatue.
Die Journalistin Petrina Engelke lebt in den USA, schreibt Bücher und podcastet bei „Notizen aus Amerika“.
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