
Mustergültig reisen. Vom Aufbrechen.
Ins Suchfeld tippe ich einmal „Männerreisen“ und einmal „Frauenreisen“. Beim ersten Ergebnis taucht das Thema Selbstfindung besonders häufig auf. Reisen als Suche nach Antworten auf die Frage, was „Mann-sein“ bedeutet. Andere Worte, die mir aufgefallen sind: Identität, Abenteuer.
Beim Ergebnis zu „Frauenreisen“ ist Yoga erwartungsgemäß sehr präsent. Passend dazu „nachhaltig“ und „fair reisen“. Andere Worte, die mir aufgefallen sind: entspannt, sinnlich, selbstbestimmt. Und obwohl die Frage, wohin man als Frau besser nicht (alleine) reisen sollte, keine unbekannte ist, fehlt das Wort „sicher“ vollständig. Als „unbeschwert“ und „sorglos reisen“ zeigt es sich in abgeschwächter Form, aber von Unsicherheit oder Zweifeln an dieser Stelle keine Spur. Ausgezeichnet.
Das Wie & das Was
Um kurz – und überspitzt – zusammenzufassen: Männer suchen ihr wahres Ich oder Abenteuer oder beides. Frauen im Grunde auch, nur die Worte sind andere. Als Texterin weiß ich, dass das nicht von ungefähr kommt, dass etwa „Abenteuer“ eher eine männliche, und „sinnlich“ eher eine weibliche Färbung hat. Ein Zustand, dessen Entstehungsgeschichte so umfassend und vielschichtig ist, dass Farbverläufe trotz wachsendem Bewusstsein für die Gender-Thematik noch immer eher die Ausnahme als die Regel sind.
Was sich schon an den Begriffen abzeichnete, die mir pro Suchvorgang aufgefallen sind, bestätigte sich nach gezieltem Hinsehen: Bei den Ergebnissen zu „Frauenreisen“ finden sich weit mehr Adjektive. Worte, die Bilder im Kopf erzeugen, Gefühle vermitteln. Beschreibend. Das Wie. Im Kontrast dazu bei „Männerreisen“: kaum Adjektive, viele Substantive. Zielorientiert. Das Was.
Auf den ersten Blick unsichtbar, versteckt sich hier wie so oft das allgegenwärtige Muster des Weiblichen als das Emotionale, Empfindsame, Abwägende und des Männlichen als das Sachliche, Wagemutige, Zielorientierte.
Schablone oder Patchwork
Muster hätten keine Muster werden können, wenn Ihnen nicht auch gewisse Strukturen zugrunde lägen, auf denen sie sich ausbilden und aushärten konnten. Muster wären keine Muster, wenn niemand sie mehr nachzeichnen würde. Es gibt sie also, zweifellos. Und es gibt Fragen, die man sich dazu stellen kann:
Sind diese – und andere – Muster noch zeitgemäß? Welchen Mustern entspreche ich – und warum? War das meine eigene, bewusste Entscheidung? Oder nur das Ergebnis einer Schablone? Wäre es womöglich gut, manche Muster hier und da aufzubrechen, anders, abstrakter zu denken – oder vielleicht ganz neue, eigene patchworkartig zusammenzubasteln, die besser zum eigenen Frau-, Mann-, Frau-und-Mann-, Nichts-davon-, Menschsein passen?
Natürlich heißt das nicht, dass es problematisch wäre, als Mann ambitioniert und abenteuerlustig zu sein und als Frau gefühlsbetont und sinnlich. Das sind vier wunderbare Eigenschaften – für alle, in diversen Mischformen, Kombinationen und Ausprägungen. Dass jede*r von uns ein ganz eigenes, komplexes Universum ist und wir uns genau darin wiederum gleichen, ist keine neue Erkenntnis, aber immer wieder eine schöne.
Hä oder Authentizität
Was bedeutet das alles für das Thema Reisen? Im Grunde dasselbe wie für den Alltag. Will ich mich daran orientieren, was mein Geschlechtsraster für mich vorsieht oder will ich mir überlegen, wie ich bin und was dazu passt? Da beginnt die Reise.
Wenn ich also nicht explizit mit einer Gruppe von Frauen oder Männern verreisen möchte, geht es im ersten Schritt darum, Eigenschaften für sich selbst unabhängig von (versteckten) Rollenbildern zu denken und das Ziel, die Suche danach, dem eigenen Wesen anzupassen, nicht umgekehrt. Auch wenn man überzeugt davon ist, das eigene Denken und Handeln nicht hin und wieder an (vermeintlichen) Erwartungen von außen auszuloten: double-check.
Denn sobald wir uns auf sozialen Plattformen bewegen, werden wir – in allen Bereichen – damit konfrontiert, was, wie, wo, wer wir auch sein könnten, und dass das, was wir da sehen, offenbar als erstrebenswert gilt, obwohl es a) in der Regel geschönt ist und uns b) nicht selten eher ein schlechteres als besseres (Selbst-)Gefühl gibt. Das beeinflusst uns, ununterbrochen. Obwohl uns dieser Mechanismus bekannt ist. Reiseweise Captions sind dann eher noch die Tüpfelchen auf dem Hä als beflügelnde Worte.
Auch das Reisen wird also – insbesondere online – mitunter derart glorifiziert, dass man sich beinahe minderwertig fühlt, wenn man noch nicht „dazugehört“ – oder gar herausfinden sollte, dass man das auch nicht möchte, keinen Drang dazu hat, eher gestresst davon ist. Ich vertrete die Meinung, dass ein nicht-reisender Mensch genauso interessant, vielseitig, tiefsinnig, wach sein kann wie ein reisender Mensch – Authentizität ist das Wesentliche.
FoMO vs. Freiheit
Im Schatten schöner Bilder kann dieses Wissen allerdings leicht verloren gehen, und mit ihm die so wichtige Frage: „Würde das, was ich da sehe, mir überhaupt entsprechen?“ – darauf wartend, abgeholt und mitgenommen zu werden, auf den eigenen Weg. So viele Aussichten zu bestaunen…
Makellose Körper im schicken Yogadress, Sonnenuntergang, Matcha und Meer. Kernige Truppe in Outdoor-Montur im Gebirge, Lagerfeuer, Stockbrot, Sternenhimmel. Backpacker-Coolness, sonnenverwöhnte Haut in luftigen Hemdchen, Ukulele unter Palmen. Das sieht so toll aus – das muss toll sein.
Hallo FoMO. Und manchmal resultiert daraus sogar eine Art Überforderung, die zu Stagnation, Resignation und damit zu gar nichts führt, nur zu noch mehr fahriger Zerstreuung.
Womit man seinen Kopf füttert, obliegt der eigenen Verantwortung – was der dann allerdings mit dem Futter macht, lässt sich schon weniger gut kontrollieren. Bevor es so weit kommt, anhalten und abbiegen, auf einen weniger überwältigenden Pfad. Digital: Wohlfühlfaktor online erhöhen, Abolisten aussortieren – was inspiriert mich, was erdrückt mich. Analog, vielleicht als Vorstufe – oder tatsächlich auch Alternative – zum „immer weiter Weiterschweifen“¹: Hübsche Örtchen nicht weit entfernt von Zuhause erkunden. In die Regionalbahn setzen, aussteigen, wo es gefällt, auf Entdeckungstour gehen. Spontan eine Nacht Ferienwohnung buchen für ein Konzert in einer anderen Stadt. Das alles hat für mich gut funktioniert.
Was nützen die fanciesten Bilder, wenn man sich letzten Endes womöglich die ganze Zeit über „fehl am Ort“ fühlt? Warum sollte es auf Reisen anders sein als Zuhause? Fühle ich mich wohl und sicher, kann ich loslassen. Kann ich loslassen, hab ich Kopf und Herz frei für die kleine und die große Welt, die auf so viele unterschiedliche Weisen erschlossen werden kann.
1 oder > 1
Als introvertierter Mensch kann ich in der Regel besser mit mir allein sein als mit anderen Menschen zusammen. Das zu akzeptieren und nicht ständig dagegen anzukämpfen, hat lange gedauert, war dann aber erlösend. Seit Jahren gehe ich mitunter allein auf Konzerte, in Cafés, ins Museum… Ich kann nach 5 Minuten merken, dass ich doch keine Lust habe, nicht in der richtigen Stimmung bin, mich überreizt oder entfremdet fühle und nach Hause oder anderswohin gehen. Das gibt mir eine tiefe Sicherheit und Freiheit. Und manchmal macht es mich einsam.
In Begleitung, vor allem in Gruppen, schlucke ich negative Empfindungen dagegen oft runter und quäle mich irgendwie durch die Situation, bis es akzeptabel ist zu gehen, oder ich kann den Mut aufbringen, etwas zu sagen, fühle mich dann allerdings jedes Mal seltsam schuldig, verpasse mir den Kompliziert-Stempel, kann mich nicht mehr leiden und bin schwer erschöpft. „Die Hölle, das sind die anderen.“² – Und „die anderen“, das bin ich selbst. Projektion.
Den Fokus umzulenken, Balance zu üben, selbstgemachten Druck abzubauen – das übe ich noch. Auch hier versteckt sich ein Muster. Eines, dessen ruhige, beobachtende, zurückhaltende Grundzüge ich mag, aber überlagert finde von Ängsten. Ängste, die ich die zwar als irreführend enttarnen, aber noch nicht durch etwas anderes ersetzen konnte. Weil ich Etwas-anderes noch suchen, sammeln und zusammenbauen muss.
Für eine längere Zeit mit Menschen zusammen zu sein funktioniert für mich also bislang nur dann wirklich stressfrei, wenn sie mir ähnlich oder so vertraut sind, dass ich keine Angst vor Ablehnung haben, nichts lang und breit erklären oder begründen, mich nicht rechtfertigen oder ausladend entschuldigen muss, wenn ich bin, wie ich bin. Dann ist > 1 ein warmer Mantel.
Magie
Sicher funktioniert das auch umgekehrt, aber: In meinem Alleinsein habe ich vieles intensiver wahrgenommen, gab es besondere Momente und Begegnungen, die ausgeblieben wären, wäre ich zusammen mit anderen unterwegs gewesen. Jede Wette lässt sich das auf’s Reisen übertragen. Bis jetzt hat sich mir keine Möglichkeit geboten, die Wette zu gewinnen und ich hoffe, dass sich das noch ändert. Dass ich irgendwann einen Zugang zum Reisen finde. Denn wenn ich daran denke, spüre ich ganz deutlich, dass sich eine Art Abenteuergefühl in mir zu regen beginnt. Ein Wort, das so viel mehr kann als laut zu sein.
Schon ein wild verwachsener Waldpfad, ein Duft, ein Lichtspiel reicht aus, um dieses magische Gefühl auszulösen – und ich liebe es. Weil es mich schon oft gerettet hat. Weil ich mich darin vergessen kann.
Deshalb ist Reisen für mich reizvoll. Deshalb, und weil ich heimlich überlege, ob es mir nicht vielleicht beim Suchen, Sammeln und Bauen von „Etwas-anderes“ helfen könnte. Durch Ungewohntes, Neues. Durch andere Aus- und Einsichten.
Ob das, was ich mir da so hübsch ausmale, zutrifft, wird sich zeigen. Oder auch nicht.
Illusion & reale Größen
Ziele, die mich reizen: Finnland. Schottland. Und allem voran: Japan. Ich bin kein Mensch, der einer inneren To-Do-List nachjagt und in fünf, zehn, zwanzig Jahren dies und das sein oder getan haben muss. Aber Japan – das wird passieren, eines großartigen Tages. Da ist eine seltsam schöne Verbundenheit, deren Kern ich nicht kenne, was das Ganze nur noch spannender macht.
Grundsätzlich würde ich behaupten, dass das Ziele sind, die meinen Wesensmerkmalen in die Karten spielen. Deswegen stresst mich der Gedanke, alleine dorthin zu reisen, kaum. Trotzdem würde ich mich für den Anfang lieber mit dem „warmen Mantel“ in die Welt wagen.
Gruppenreisen kommen für mich nicht in Frage. Yoga-Retreats nur ohne Yoga. Von großen, schweren Rucksäcken bekomme ich sofort Rückenschmerzen. (Nein, trotzdem kein Yoga.) Ich brauche mein eigenes Bett und die Möglichkeit, mich zurückziehen und waschen zu können. Ich bin ein Fan von Toiletten. Kurz: Ich weiß – als Frau und Mensch – relativ genau wie ich reisen will und wie ich nicht reisen will.
Ich weiß außerdem, dass das Leben sich um Pläne und Erwartungen nicht groß schert und damit Platz für Entwicklung schafft, und dass Kontrolle und Sicherheit vor allem im Kopf stattfinden – als nützliche Illusionen, die uns bestimmter, selbstbewusster auftreten lassen und so aufmerksamer, widerstandsfähiger machen. Natürlich gibt es da reale Größen, über die man sich vorab – je nach Zielort und allein schon aus Respekt den Menschen gegenüber, die dort leben – informieren sollte, sorgfältig, unaufgeregt:
Was ist wichtig? Was ist anders? Wie sollte ich mich (nicht) verhalten? Was betrifft mich als Frau vielleicht besonders? Wo und wie bekomme ich im Ernstfall Hilfe? Welche Gegenden sind mit Vorsicht und besser nicht allein zu genießen?
Und trotzdem können zwei Menschen den gleichen Trip zur gleichen Zeit machen und mit vollständig konträren Antworten auf Sicherheits- und andere Fragen wiederkommen – weil es eben nicht derselbe Trip war. Weil jede*r alles anders erlebt. Weil jede*r eine eigene Geschichte mitbringt, als eigenes Wesen kommt und geht und dabei anderen begegnet, die eigene Geschichten mitbringen und als eigene Wesen kommen und gehen, die wiederum anderen begegnen, die …
Aufbruch
Sich auszumalen, was alles passieren könnte und damit irreale Ängste heraufzubeschwören, sich so letztlich selbst zu sabotieren und womöglich vom Wachsen abzuhalten – das ist entweder ein Zuviel an internalisierter undifferenzierter Fremdmeinung oder ein versteckter Hinweis, der sagen will: Langsamer anfangen. Kleiner. Leiser. Rantasten. Es geht nicht darum, jemandem etwas beweisen zu müssen, sondern darum, im eigenen Tempo herauszufinden, wie man selbst reisen kann und will und je nach Erfahrung und Charakter eigene Regeln dafür zu finden, als Rahmen, der Freiheit erst möglich macht. Als Rahmen für eigene Muster.
Sinnlich, abenteuerlich, entspannt, herausfordernd, sanft, wild, lang, kurz, weit, nah, allein, zu zweit, in Gruppen, als weiblicher Mensch, als nichtbinärer* Mensch, als männlicher Mensch. „Reisen“ klingt nicht nur ähnlich, sondern ist tatsächlich direkt verwandt mit „rise“ und bedeutet „Sich-Erheben, Aufbrechen, Aufbruch“ – das funktioniert auch im übertragenen Sinne.
¹ J. W. von Goethe – Erinnerung
² Geschlossene Gesellschaft – Jean Paul Sartre
* Als cis-Frau weiß ich natürlich nicht um die Herausforderungen, die sich hier im einzelnen stellen können. Diesen Artikel fand ich aufschlussreich.
Über die Autorin
Julia Clauß lebt und arbeitet – unter anderem für Reisen Reisen – als Kreative und Texterin in Bielefeld und vermisst zwischenzeitlich ihre Herzensheimat Köln schwer.
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